Warum der Friedenspreis an Anne Applebaum ein Kommentar zur Zeit ist

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Ein Kommentar zu unserer Gegenwart: Anne Applebaum erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Die Auszeichnung ist ein Kommentar zu unserer Gegenwart. Zu unseren Erfahrungen, wie Demokratien selbst im aufgeklärten Europa des 21. Jahrhunderts ins Wanken geraten und autokratische Kräfte für viele Menschen immer attraktiver zu werden scheinen. Mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Anne Applebaum geht die wichtigste Ehrung hierzulande an eine Historikerin und Journalistin, die sich genau dieser anhaltenden Bedrängnis widmet.

Obgleich sie als Auslandskorrespondentin für britische und amerikanische Medien von der Aktualität publizistisch getrieben war, hat sie sich mit ihren Büchern erst einmal an die Gegenwart heranschreiben müssen: mit ihrem Werk über den „Gulag“ in den Jahren 1944 bis 1956; der Unterdrückung Osteuropas in „Der Eiserne Vorhang“, mit Stalins Krieg gegen die Ukraine („Roter Hunger“) und schließlich der „Verlockung des Autoritären“ von 2021.

Mit der jüngsten Publikation scheint die 59-Jährige eine Bilanz ihrer früheren Analysen geschrieben zu haben. Denn es sind viele Quellen der Vergangenheit, aus dem sich ein aktuell bedrohlicher Fluss speist. Putins Krieg und Rechtspopulisten in der Regierungsverantwortung europäischer Länder sind der aktuelle Stand der Dinge und keine Szenarien mehr.

Es sind tiefe, gefährliche Erschütterungen, und Anne Applebaum ist ihre fundierte, empfindsame Seismographin. Der Friedenspreis wird am 20. Oktober verliehen.

Friedenspreisträger der vergangenen zehn Jahre:

Friedenspreisträger der vergangenen zehn Jahre:

2014 Jaron Lanier

2015 Navid Kermani

2016 Carolin Emcke

2017 Margaret Atwood

2018 Aleida Assmann und Jan Assmann

2019 Sebastião Salgado

2020 Amartya Sen

2021 Tsitsi Dangarembga

2022 Serhij Schadan

2023 Salman Rushdie

2024 Anne Applebaum

Die Verleihung Sonntag, 20. Oktober 2024, in der Frankfurter Paulskirche. Sie wird live um 10.45 Uhr in der ARD übertragen. Der Friedenspreis wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert.

Das jüngste Buch: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist

Was das meint, ist gleich zu Beginn in der „Verlockung des Autoritären“ zu lesen. Das beginnt ja nicht mit großen Gesellschaftstheorien und einem intellektuellen Überbau. Sondern weit unten, im Nahbereich ihres Alltags: Es ist 31. Dezember 1999, als sie mit ihrem Mann zu einer Party auf ein kleines Landgut im Nordwesten Polens einlädt; Chobielin heißt der Ort.

Gekommen sind befreundete Journalisten aus Moskau und London, aus Polen natürlich. Das Land war auf dem Sprung in den Westen. Doch später kommt dann die PiS-Partei an die Macht, siegt das Nationale, das Autoritäre, werden Medien „gekapert“ und Journalisten entlassen. Polen polarisiert sich.

Und was hat das mit der fröhlichen Party von damals zu tun? Zwei Jahrzehnte danach würde sie die Straßenseite wechseln, um Gästen von damals aus dem Weg zu gehen, wie sie schreibt. Das ist freilich noch keine Analyse. Aber doch ein persönliches Erlebnis, das sich einbrennt ins Gedächtnis und dort keine Ruhe mehr gibt, bis man sich klar darüber geworden ist, wie alles kommen konnte.

Anne Applebaum hat das sogenannte Rüstzeug genau dazu: Die in Washington geborene Publizistin jüdischer Eltern hat an der Yale University, in London und Oxford Russische Geschichte und Literatur studiert, sie lehrte an verschiedenen Universitäten, arbeitete als Korrespondentin und Kolumnistin für viele Medien.

Es war ausgerechnet der Fall der Berliner Mauer, der auch ihr privates Leben erheblich veränderte. Auf einer Pressekonferenz am schicksalhaften 9. November 1989 lernt sie Warschau Radoslaw Sikorski kennen. Sie werden ein Paar, heiraten später und verschränken somit ihre Arbeit mit ihrem Leben.

Seit 2023 ist Sikorski erneut Außenminister Polens, seit 2013 hat Applebaum neben ihrer US-amerikanischen auch die polnische Staatsbürgerschaft angenommen.

Die Frage, wie Rechtspopulismus nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts erneut so stark an Boden gewinnen kann, treibt viele Demokraten um. Doch nur wenige sind in ihren Begründungsversuchen und Strategien so klar und auch so einfallsreich wie Anne Applebaum.

Für sie ist eine der Gründe die große Enttäuschung der vermeintlich Abgehängten in unseren westlichen Gesellschaften. Wer dann das Gefühl hat, dass die Politik in eine falsche Richtung läuft, schaut sich eben nach einer neuen, ganz anderen um.

In demokratisch geprägten Gesellschaften ist es dann eine anti-demokratische Politik. Es sind oft persönliche Verletzungen und Verunsicherungen, die Menschen für Populismus empfänglich machen.

Anne Applebaum ist keine Linke und ist es nie gewesen. Sie kommt aus einem Lager, das eher konservativ denkt, vor allem aber von einem tiefen Antikommunismus befeuert wird. Europäische Union, Marktwirtschaft und NATO waren und sind ihr Werte-Fundament.

Sich selbst beschreibt sie inzwischen als eine klassische, europäische Liberale. Diese Position ist für sie zugleich eine Antwort auf die Fragen unserer Zeit.

Bei ihr erinnert an Deutschland, kurz bevor Hitler an die Macht kam. Damals seien es die traditionellen Konservativen gewesen, die versagt hätten, weil bei ihnen die Verunsicherten keine Heimat mehr finden konnten.

Dieser Fehler dürfte kein zweites Mal begangen werden - für die Verteidigung demokratischen Denkens im eigenen Land und in der Außenpolitik. Denn es gilt, einem Mann wie Putin die Grenzen zu zeigen, der ihrer Meinung nach eine „raffinierte Diktatur“ installiert hat mit russischer Propaganda, vermischt mit Aktivitäten von Gazprom.

Ihr neues Buch, das pünktlich zur Friedenspreisverleihung im kommenden Oktober erscheinen soll, wird sich auch damit beschäftigen: In „Die Achse der Autokraten“ analysiert sie, wie sich Diktaturen mit Korruption, Kontrolle und Propaganda gegenseitig an der Macht halten.

Es überrascht nicht, dass Anne Applebaum für ihre klaren Positionen selbst auch attackiert wird - insbesondere in den sozialen Medien. Wie sie mit Unterstellungen, allerlei Verschwörungstheorien zu ihrer Person und Anfeindungen umgehen kann, habe sie von ihrem Mann gelernt, verriet sie vor einigen Jahren in einem Interview.

Er riet ihr, nichts zu dementieren. Wenn Gegner sagten, sie sei die wichtigste Journalistin der Welt und in der Lage, die gesamte internationale Presse zu organisieren, dann solle man sie das ruhig denken lassen.

Dass sie und ihre Analysen mit dem Friedenspreis aber eine große Öffentlichkeit bekommt, das bleibt Anne Applebaum und ihrem Werk auf jeden Fall zu wünschen.

Holger Hofmann

Ich bin Holger, ein erfahrener Redaktionsleiter von Hol Aktuell, einer generalistischen Zeitung mit nationalen und internationalen Nachrichten. Mein Team und ich sind bekannt für unsere strenge und objektive Berichterstattung. Mit meiner langjährigen Erfahrung als Journalist habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, unseren Lesern stets aktuelle und relevante Informationen zu bieten. Meine Leidenschaft für den Journalismus treibt mich jeden Tag an, die besten Geschichten zu finden und sie professionell aufzubereiten.

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