So wertvoll sind die Erinnerungsbilder von Zygmunt Bauman
Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman hat in seinem Leben ein umfangreiches Werk hinterlassen, das die Gesellschaft und ihre Strukturen aufzeigte. Doch neben seinen theoretischen Arbeiten sind es auch die Erinnerungsbilder, die er in seinem Werk Retrotopia zusammengetragen hat, die einen tiefen Einblick in sein Leben und Denken geben. Bauman selbst beschrieb diese Bilder als Fenster in die Vergangenheit, die es ermöglichen, die Zukunft besser zu verstehen. In diesem Sinne bieten die Erinnerungsbilder einen einzigartigen Blick auf die Gedankenwelt eines der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts und geben Aufschluss über seine Sicht auf die moderne Gesellschaft.
Zygmunt Bauman: Ein Leben zwischen Angst und Überlebenskampf
Sein letztes Buch war zugleich eins seiner aktuellsten und auch drängendsten: Die Angst vor den anderen heißt sein Essay über Migration und die Panikmache in ihrem Gefolge. Das war 2016. Ein Jahr später starb Zygmunt Bauman mit 91, einer der wichtigsten und vielleicht auch wirkmächtigsten Soziologen unserer Zeit.
Nun sind seine Lebenserinnerungen erschienen, und dass sie den Titel Fragmente meines Lebens tragen, hat seinen guten Grund: Die 300 Seiten speisen sich aus verschiedenen Textquellen, im Kern aus Briefen an seine Familie. Klug miteinander kombiniert, erzählen sie eine lesenswerte Geschichte, aber noch kein Leben.
Die Kindheit zwischen Flucht und Überlebenskampf
Es ist vor allem die Geschichte seiner Kindheit, seiner Jugend, seiner Zeit als junger Mann. Dass von seiner Bücherleidenschaft permanent die Rede ist, mag man kaum erzählen. Weil doch die ersten Jahre im Leben des polnischen Juden ein reiner Überlebenskampf waren – geprägt von Flucht vor den Nazis, Flucht vor den Russen, Kampf ums tägliche Essen, um eine Unterkunft für die nächste Nacht, später auch der Kampf als junger Soldat gegen die deutschen Besatzer.
Eine Zeit voller Gewalt und Angst, unerwarteter Hoffnungen und eines erst langsam wachsenden Lebensmutes. Die Angst war stets präsent, und Bauman erzählt davon in seinen Lebenserinnerungen, die vor allem die Geschichte seiner Kindheit und Jugend erzählen.
Das Erzählen macht frei
Die Fragmente sind tatsächlich eine Erzählung und ein Erleben, weniger ein Reflektieren. Ich werfe mich in die Sprache hinein, tauche ab, taumele, schreibt Bauman. Selten nur finden sich Einblicke wie diese, dass der Albtraum dieser Jahre weniger der Tod selbst ist als die Art des bedeutungslosen Dahinvegetierens.
Das Erzählen macht frei, auch von Situationen zu schreiben, die – allerdings erst im Nachgang – komisch sind. Wie etliche Episoden über seinen zionistischen, weitgehend lebensuntüchtigen Vater und dessen Leben voller Katastrophen.
Ein klug Vermutender
Zygmunt Bauman ist ratlos, bleibt am Ende aber ein klug Vermutender: Vielleicht rührt alles Leiden aus der Notwendigkeit zu vergleichen, wessen Blut roter ist. Vielleicht liegt das Böse im Vergleichen selbst. Dass er sich in seinem letzten Buch zu Lebzeiten dem Leid der Flüchtlinge angenommen hat, wird darum auch seiner eigenen Erfahrung geschuldet sein.
Info: Zygmunt Bauman: Fragmente meines Lebens. Suhrkamp, 304 Seiten, 30 Euro
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